Aufregende Wochen
Vor dem
Metropol-Kino stehend,
sehnsüchtig auf den Beginn
der Vorstellung wartend,
sein Mädchen fest im Arm,
sah er von weitem
eine Gruppe Menschen,
die Reichsstraße herab
schreitend.
Weniger als hundert wohl.
Schweigend dicht bei dicht,
kamen immer näher sie,
vorbei am Kino,
deutlicher zu unterscheiden nun,
Frau und Mann,
wenig Junge,
eher älter,
die Generation seiner Eltern.
Erinnernd an ihre ausgereisten Kinder,
die nun jenseits einer Mauer leben,
gar nicht weit entfernt,
doch für sie unerreichbar.
Erinnernd aber auch daran,
dass trotz vielem Gutem,
manches sich ändern muss,
manches sich auch ändern kann.
Am ersten Freitag dann im Oktober,
kurz vor dem großen Fest,
auf einmal einige Kollegen,
ganz plötzlich in den Urlaub
weggetreten,
Kampfgruppenmitglieder,
durch ein Gerücht gewarnt
vermeidend wollend,
am Siebenten eingesetzt zu werden.
Er selbst in Nachbarschaftshilfe neu
verfugte,
die Fenster einer älteren
Mieterin,
den Blick auf Umgebung und Himmel
frei,
das blaue Auto in seiner Straße
mit den beiden Herrn
am Siebenten Ganztagsparken sah,
während der Hubschrauber kreiste.
Es kam der Montag,
stets einem Wochenende folgend,
der aber dieses Mal
so ganz anders war.
Berichte von Demonstranten,
getrieben und geprügelt
durch Staffel-laufende Kinder,
bis in eine Unterführung.
Nachmittags der erste Hinweis,
eine Kirche ruft zum Gebet,
stiller Protest dafür,
dass es so nicht weiter geht.
Voll von Angst,
dennoch endlich entschlossen,
er sich abends in den Zug jener
gereiht,
die diesem Aufruf folgten.
Doch die Kirche war zu klein,
bei seinem und anderer Erscheinen
bereits überfüllt,
aber weiter landwärts
sei eine größere Kirche,
dorthin bewegte sich nun der Zug,
schweigend dicht beieinander,
wie vor Tagen vor dem Kino.
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Jede Seitenstraße
argwöhnisch beäugend,
Angst, dass Staatsmacht erscheint,
aufzulösen mit Gewalt,
was schweigend so bedrohlich scheint.
Endlich die Kirche dann erreicht,
innen übervoll,
außen dicht gedrängte
Menschenmassen.
Schauer über seinen Rücken
liefen.
Zweimal wurde wiederholt die Predigt,
die kritischen Worte von
Bürgerrechtlern,
Aufrufe zu mehr Demokratie,
zu mehr Volksbeteiligung
beim Aufbau dieses Staates.
Zweimal hat er zugehört,
einmal draußen,
dann von innen.
Woche für Woche montags,
die Demos wurden immer
größer,
doch mit dem Scheitern der Regierung
änderte sich auf einmal vieles.
Aus den Losungen der ersten Tage:
„Wir sind das Volk, wir bleiben hier“
entstand im Volksfesttaumel auf
einmal:
„Wir sind ein Volk.“
Auch die Redner wurden anders,
die Revolution fraß ihre Kinder,
immer mehr Wichtigtuer,
Wendehälse und
Politikerklärer
nun die Rednerpulte stürmten,
die Ideen einer Entwicklung,
eigenständig und demokratisch,
Bananen und Begrüßungsgeld
geopfert.
Alte Genossen ihre Erfahrung nutzend,
zu Firmenchefs mutierten,
den Mitarbeitern klar zu verstehen
gaben,
wer hier jetzt wie regiert.
Entlassungen und herbeigeführte
Firmenpleiten,
bauten den Druck auf,
damit blühender Landschaften
Versprechen
werden konnten zum Ventil.
An diese aufregenden Wochen,
jedes Jahr im Oktober und November
treulich lobend erinnert wird,
geschmückt mit Verdiensten
oft nur scheinbarer Natur.
Große Reden über Freiheit,
um im Rausch der Feiern dann dem
Osten,
für die großen Lasten zu
verzeihen.
Er geht an diesen Tagen
zum Conti-Loch in unserer Stadt,
dorthin, wo er einst im Praktikum
des Textima-Gebäudes
Pförtnerhaus
auf dem Reißbrett mit entwarf,
wo das große Versprechen sich
erfüllte,
wo losgelöst von aller Politik,
Mutter Natur blühende
Landschaften schuf.
a.m.
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