Lyricon
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Der Reisende -
Wenn man von sich auf Andere schließt


Ein Reisender kam spät in der Nacht
endlich zur Brücke vor der Stadt.
Ein Blinder dort in der Nähe stand,
ihn fragte,
ob er ihn zur Brücke führen könne,
die über den Bach gespannt.

Der Reisende war ein wahrhaft kluger Mann,
setzte gleich zur Gegenfrage an:
Siehst du sie denn nicht?
Sie ist gleich vor dir.

Da sagte der Blinde müde:
Nein, ich bin Blind.

Den Mann ihm gegenüber
überrascht und mitleidig betrachtend,
stellt der Reisende für sich fest:
Wer trotz zweier Augen im Gesicht,
glaubt Blind zu sein,
dem ist wahrlich übel mitgespielt worden.

In dem erhabenen Gefühl
bald einen Unwissenden belehren zu können,
ihn Stück für Stück
helfend zur Erkenntnis zu führen,
kam sofort die nächste Frage:
Woher weißt du das?

Der Blinde darauf etwas irritiert:
Die Ärzte sagten es mir!
Die Menschen meinen dies!

Nach kurzem Überlegen
ergänzte er noch um Verständnis werbend:
Ich sehe doch nichts.

Das Vorgeplänkel war geschafft,
der Reisende wähnt sich am Punkte angekommen.
Um die Belehrung zu platzieren,
holte er nun aus,
dem armen Blinden zu erklären,
wie die Welt beschaffen ist:

Ich bin ein kluger weitgereister Mann,
die Anderen sind Scharlatane,
Glaube den Ärzten und Menschen nicht!
Alles nur Einbildung! 
Ich will dich lehren,
wie du die Brücke siehst.



 





Der Blinde sehr staunend,
fragte völlig überrascht:
Wie soll das gehen?
Der Reisende bereits im Vorgefühl
eines großen Triumphs:
Warte, bald ist es Tag!

Auf das ungläubige Staunen
in des Blinden Gesicht
der Reisende weiter spricht:
Dann wird es hell.
Bis dahin denke darüber nach,
was du bisher falsch gemacht haben könntest.


Der Blinde noch im Grübeln,
als er die nächsten Worte hört:
Auch ich im Dunklen seh' die Brücke kaum,
nur im Hellen kann kann das gehen.
Du musst am Tag nur deine Augen öffnen
und du wirst die Brücke sehen.


Kurzes Schweigen,
Auskosten des Triumphs,
dann eilt der Reisende weiter,
rufend mit mit stolz geschwellter Brust:
Wissen ist oft doch nur,
von sich auf Andere Schluss.


Im Ohr die davon eilenden Schritte,
fragte sich der Blinde stumm:
Wer von uns Beiden ist hier blind?
Ich sicherlich vom Sehen,
er aber möglicherweise
vom Erkennen und Begreifen.


Doch diese oberflächlichen Gedanken
sehr schnell ganz anderen weichen:
Blindheit bedeutet nichts zu sehen,
aber dennoch vieles richtig wahrzunehmen,
einfache Rückschlüsse von sich auf Andere,
dagegen mitunter sehr trügerisch sind.


a.m.






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Erstentwurf am: 06.09.2010 Weiterblättern >>>

Einfach anders Anders  - Lyrik über das anders Andersein
a.m.


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