Sentimental
Du fragst,
warum er heute so sentimental ist,
so dicht am Tal der Tränen
gebaut?
Warum ist sein Herz so traurig
und sein Kopf so schwer?
Er hörte von einem kleinen
Jungen,
gerade in der dritten Klasse,
und doch schon aufgegeben,
sein junges Leben,
seine Perspektiven,
eingeknickt im Mobbing an seiner
Schule,
durch missverstandene
Leistungsschwankungen
der Motivation beraubt.
Er hörte gestern von einem
anderen Jungen,
noch kleiner als der Vorbeschriebene,
gerade acht Jahre alt.
Er kommt in die zweite Klasse
in der nun schon fünften Schule.
Die erste Schule wollte ihn nicht.
Die zweite hielt ihn für
unbeschulbar.
Dann folgten die Förderschulen.
*
Du fragst,
warum er heute so sentimental ist,
so dicht am Tal der Tränen
gebaut?
Warum ist sein Herz so traurig
und sein Kopf so schwer?
Er hörte von einer Frau
deren Klugheit hinter sprunghaften
Worten
nicht jedermann sofort sich offenbart,
den langen Leidensweg ihres Lebens.
Trotz Gymnasialempfehlung
auf die Hauptschule abgedrängt,
stets erniedrigt und kleingehalten,
heute schwankend zwischen
Aufbäumen und Zerbrechen.
Er lass von einem Mann,
welcher nicht weiß,
was Eigenliebe ist,
der sich trotz vorhandener Potentiale,
sein eigenes Gefängnis baute,
dessen Schlüssel er ganz tief
verscharrte,
weil er von Angst getrieben wurde,
außerhalb des Glashauses zu
versagen.
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Du fragst,
warum er heute so sentimental ist,
so dicht am Tal der Tränen
gebaut?
Warum ist sein Herz so traurig
und sein Kopf so schwer?
Er hörte einem Bildungsreferent
sprechen:
AD(H)S sei nur ein Erziehungsfehler
und erfordere Konsequenz!
Man müsse endlich aufhören,
diese Kinder als krank oder behindert
einzustufen,
sie nur streng heran nehmen,
und deren Eltern endlich klar machen,
dass sie auch Pflichten hätten.
Er liest seit Tagen einen Beitrag nach
dem anderen,
von recht wissend auftretenden
Personen,
dass manches Syndrom nur eine
Modekrankheit sei
und man doch endlich akzeptieren
müsste,
dass Hyperaktivität und
Impulsivität nur Fehlverhalten,
Hypoaktivität nur Depressionen
Legasthenie nur der Faulheit
geschuldet
und Schwarz-Weiß-Wahrnehmen nur
Böswilligkeit sei.
*
Du fragst,
warum er heute so sentimental ist,
so dicht am Tal der Tränen
gebaut?
Warum ist sein Herz so traurig
und sein Kopf so schwer?
Ja du hast recht!
Sentimental und traurig sein hilft
nicht weiter!
Es ändert nichts und bringt
nichts vorwärts!
Doch bitte lasse ihm diesen einen
Abend,
mit seiner Sentimentalität und
seinen Tränen.
Morgen ist er bestimmt wieder stark.
Morgen wird er mit Anderen sich weiter
bemühen,
aufzuklären und etwas zu bewegen.
*
Nein er ist heute nicht happy.
Er ist sentimental und lässt die
Tränen fließen.
Bei soviel Leid und Unrecht kann er
heute nicht anders.
Doch morgen wird sein Herz wieder
kämpferisch,
morgen wird er wieder stark sein und
helfen!
*
Morgen reicht er wieder Hilfesuchenden
seine Hand!
a.m.
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