Lyricon
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Nachdenken
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Der Chat


SBeim ersten Male war es Neugier,
als er den Chat betrat.
Hallo an Alle,
Bussi,
Küsschen,
gar schnell und völlig unbefangen
ist er mit And'ren im Gespräch.
Noch zaghaft und auch etwas unbeholfen
nimmt er an Dialogen teil,
mit Menschen,
die ihm noch eben völlig fremd.
So leicht das seichte Reden hier,
so unglaublich ungezwungen.
Er fühlt sich so angenehm und losgelöst
von des Alltags strengen Regeln,
von Pflichterfüllung und gespielter Rücksicht.

Der Wunsch nach Wiederholung
dieses Gefühls
des unbeschwerten Seins,
treibt ihn erneut,
den Chat zu wählen,
teilzunehmen an einer Welt
des trügerischen Scheins.
Er ist jetzt nicht mehr unbekannt
und spürt mit jedem Male,
wenn er den Raum betritt,
gehört er mehr dazu,
rückt immer näher hin zum Mittelpunkt.
Es füllt sich seine Freundesliste,
es spricht ihn jeder an,
so ganz anders
als im realen harten Leben,

Bald möchte er es nicht mehr missen,
und immer öfter
und auch länger
wird seine Anwesenheit im virtuellen Raum,
Private Nachricht,
erste Treffs,
er spürt,
dass er dazu gehört,
dass er was ist,
in des Chats ungezwung'ner Welt.
Und scheinbar immer ungehemmter wird er,
versucht sich selbst zu toppen er.
Spaß folgt auf Spaß.
Vermischt mit lock'ren Sprüchen,
bringt er seine Meinung
immer dominanter ein.

Irgendwann,
er merkt es selber kaum,
tritt das reale Leben
immer mehr aus seinem Blick.
Familie,
Hobbys,
Freunde,
alles dies verblasst,
nur nicht an die Pflichten
oder gar den trüben Alltag denken,
der Chat entbindet scheinbar ihn von dieser Last.
Hier ist er frei,
hier kann er reden,
ungeniert den And'ren sagen
und mit ihnen machen,
was er so gerne will.

Und gleich einer Droge,
kann er bald nicht mehr davon lassen.
Menschen,
die er nicht wirklich kennt,
bestimmen seinen Blick.
Seine Dialoge werden immer flacher,
der Hemmungen eiserne Schwelle
sinkt ganz unmerklich ins Nichts.
Er spürt nicht,
wie seine Dialoge
von mal zu Mal frivoler werden,
gewöhnlicher sein Ton,
und wie er immer mehr Privates
in diesen Raume trägt,
wie er plötzlich sich aufführt,
wenn ihm etwas hier nicht passt.

 




Längst ist er im Chat gefangen,
ständig drängt es ihn hin zu ihm.
Angst, etwas zu verpassen,
nicht dabei zu sein,
wenn etwas geschieht.
Er spürt zwar,
das ist nicht wirklich,
doch los zu lassen fällt so schwer.
Des Chats ablenkende Wirkung,
braucht er zum Ausgeglichen sein.
Und wenn nichts Aufregendes passiert,
er nicht mit im Zentrum des Geschehens steht,
oder es sind gar nur
die falschen Leute da,
wird seine Stimmung fürchterlich,
ist ungehalten und launisch er.

"Hör auf damit,
das bist nicht du!"
Die Worte eines guten Freundes
mitten in so einem Streit,
als er auf einen Einzelnen mit and'rer Meinung
gerade wieder einmal losgehetzt,
sie drangen einem Blitze gleich
durch dicken Nebel.
"Er hat dir nichts getan,
es ist nur Chat!"
Der Donnerschlag,
er riss ihn wach,
öffnete ihm seine Augen.
Nie hätte er gedacht,
dass er sich so verändern kann,
ohne es zu merken.

Noch wehrt er sich
mit ganzer Kraft
gegen diese klaren Worte.
Zu erschreckend ist das Bild,
dass sein Freund
gleich einem Spiegel,
ihm von seinem Ich entgegen hält.
Doch allmählich reift in seinem Innern
die beängstigende Erkenntnis,
es ist schon fast zu spät.
Wenn er jetzt nicht aufhört,
wird er Schritt für Schritt,
alles wirklich Wichtige verlieren:
seine Familie,
seine Freunde,
so wie eben fast sein Ich.

Und je länger diese Worte
donnernd in ihm wirken,
um so froher ist er darüber,
dass sein Freund sie zu ihm sprach,
um so größer wird der Wunsch in ihm,
sich endlich loszureißen
von dem Chat,
zurückzukehren ins Reale,
in das Leben
wieder sich hinein zu werfen.
Aus der engen dunklen Stube,
in die Sonne schnell zu treten,
mit der Familie und den Freunden,
den Tag aktiv zu teilen,
das Leben wieder so zu genießen,
wie es wirklich ist.
 

 

a.m.





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08.12.2004/16.07.2010
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Nachdenken - Lyrik zu Begriffen und Handlungsweisen, über die es sich vielleicht einmal nachzudenken lohnen könnte.
a.m.


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