Lyricon
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Die wilde Kirsche


Eine Drossel saß auf einem großen Kirschbaum
in dessen breiten kräftigen Geäst,
tat genüsslich sich
an seinen roten Früchten,
bis sie von einer Elster ward erschreckt.
Die letzte Kirsche war besonders süß.
Die Drossel wollte sie nicht lassen.
Als sie eilig nun von dannen flog,
trug sie mit sich diese süße Frucht,
bis ihr zu schwer die Kirsche wurde,
dem ermüdenden Drosselschnabel entgleitend
auf ein freies Felde fiel.

Da lag sie nun, ganz angenagt,
die einst so schöne rote Kirsche
ganz frei ihr gelber fester Kern
dem Wetter schutzlos ausgesetzt.
Es vergingen Tage und auch Wochen,
der Herbst mit seinen Stürmen und dem Regen
und auch der Winter mit viel Schnee und Kälte
kamen und verschwanden,
nagten ab das letzte Fleisch,
bis in des Frühlings ersten warmen Strahlen
der abgehärmte Kern mit einen Mal zerplatzte,
und freisetzte einen kleinen grünen Keim.

Der Keim fing an zu wachsen
mitten auf dem weitem großen Feld.
Zunächst verschont bleibend
von Egge, Pflug und Schneide,
er wuchs und wuchs.
Aus dem kleinen wilden dünnen Spross,
der kaum zu sehen war,
versteckt als Fremdling im hohen goldenen Korn,
wurde im Laufe der vergehenden Jahre
ein kleiner Baum,
dessen Wurzeln sich immer weiter ausbreiteten,
so wie die Krone sich verzweigte.

Doch war das Bäumlein erst einmal größer,
als alle Plänzlein rings umher,
fiel weg der Schutz der Masse,
so freistehend auf weitem Feld,
ausgeliefert allen Widrigkeiten dieser Welt.
Wind zaust ungeschützt in seiner Krone,
biegt grausam hart das junge Bäumchen,
bis es fast bricht.
Hagelkörner zerschmettern mit harten Schlägen
seine frühen wilden Blüten,
noch ehe die ersten Bienen sie bestäuben,
noch ehe es die ersten Früchte trägt.

Das Bäumchen ist kein Korn,
wird nie als Brot die Menschen nähren,
ist nur ein wildes Geschöpf der Natur.
Ganz anders als bei den Pflanzen rings herum
sieht der Bauer seinen Nutzen nicht.
Rücksichtslos bei ihrem Tagewerk
brechen Egge und Pflug
nicht nur die braune fruchtbare Erde,
sondern sie zertrennen schmerzhaft,
immer und immer wieder,
mit ihrem kalten Eisen
gar grausam das noch zarte Wurzelgeflecht.


 




Fühlt das Bäumchen auch seine Schmerzen,
blutet aus achtlos abgefetzter Rinde,
ist zerrissen seine Seele,
von dem was ihm immer wieder angetan,
der Mißachtung und Erniedrigung
sieht es auch mitunter keinen Sinn im Leben,
so wächst es doch weiter,
blüht jedes Jahr erneut.
Jede zerschnittene Wurzel,
jeder abgebrochene Ast
lässt neue Wurzeln und Äste sprießen.
Das Bäumlein wird zum Baum.

Nun sind seine Wurzeln nicht mehr zu zertrennen
von grobem Ackerwerkzeug bei ihrem Tun,
die nun schlagen einen immer größeren Bogen.
Der Boden um den Baum kann ruhen,
bietet Platz für Gräser und kleine Büsche,
die auch immer weiter wachsen,
sich schützend um das Bäumchen stellen.
Die Äste sind nun stark und fest,
können leichter Hagel und auch Stürmen trotzen.
Die Vögel fangen an in seinen Wipfeln,
sich ein Nest zu bauen.
Täglich hört man frohes Zwitschern
von diesem einstmals nutzlos erscheinenden Baum.

Viele Jahre sind seitdem vergangen,
auf dem großen weiten Felde
trohnt ganz selbstbewusst in voller wunderschöner Blüte
eine stolze wilde Kirsche,
spendet Schatten dem müden Wanderer
vor der Sonne heißer Glut,
schützt das goldene Korn umher
vor den rauhen Winden und zu starkem Regen.
Die alten Wunden sind vernarbt,
seine Sele ist geheilt,
der Baum hat seinen Platz in dieser Welt gefunden,
dank seiner Wurzeln Kraft.

Längst zweifelt der Baum nicht mehr
am Sinn des Lebens,
oder seines eigenen Seins,
längst ist er froh,
so ganz ganz anders zu sein,
als das schwache goldene Korn,
dass sich bei jedem Winde
ängstlich an den Boden schmiegt.
So kann er Leben und Halt den Anderen geben,
Heimat und Ernährer
für die Vögel und so manches andere Getier,
Schutzpatron und Orientierung
für das gesamte Umfeld sein.


a.m.







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Überarbeitet am 19.07.2010 / Ersterstellung am: 13.04.2009 Weiterblättern >>>

Mysterien der Natur - Lyrik für den anderen Blick auf das, was uns umgibt
a.m.